aus der Berliner Zeitung, 25. Juli 2005, Feuilleton
UNTERM STRICH: VERLUST
Geblümte Kittelschürzen mit knirschenden Nähten
Manfred Schwarz Die Dinge kommen und gehen. Oftmals gehen sie, und wir schauen ihnen traurig hinterher. Erinnern Sie sich noch an die holzvertäfelten Straßenbahnen, wo es Schaffner gab und Türen zum Selberöffnen?
Erinnern Sie sich noch an Kinos, wo man rauchen konnte, einfach nur so, und so viel man wollte? Nichts hielt einen davon ab, sich selbst ganz beiläufig eine Zigarette anzustecken, während man gerade fasziniert verfolgte, wie etwa Alain Delon an irgendeinem einsamen Morgen, die siebte Gitanes im Mund, im Badezimmer steht und sich die Zähne putzt.
Man konnte auch mit Marlene Dietrich gemeinsam eine rauchen, bevor ihr schmales, blasses Gesicht dann allmählich im Dunst verschwand. Unwiderstehlich, dieses Gesicht in Großaufnahme zu sehen, und wie die viel zu dünnen Lippen an der filterlosen Zigarette ziehen. Unwiderstehlich, diese im Vergleich zu den Proportionen ihres Gesichtes ungeheuer große und dicke Zigarette in ihrem Mund.
Man konnte nicht anders, als sich in diesem Moment auch eine Zigarette anzustecken. Ob der mit allen Wassern des subtilen Nervenkitzels gewaschene Josef von Sternberg diese übergroßen Zigaretten eigens für die Großaufnahmen mit der Dietrich herstellen ließ? Wir haben uns das oft gefragt und doch nie herausgefunden. Es wird für immer ein Geheimnis bleiben. Und das Kino für hemmungslose Kettenraucher gibt es auch schon längst nicht mehr.
Auch den Küchenkittel gibt es nicht mehr. Zuletzt, das ist ebenfalls schon lange her, sahen wir ihn in bunten Farben und psychedelischen Mustern an ältlich gewordenen Hausfrauen. Dann verschwand er vollends. Wir hätten dies nicht bedauert, wenn wir ihn nur so gekannt hätten, so reizlos bieder.
Aber wir haben ihn auch anders gesehen, in voller Blüte, in seiner Glanzzeit. Im Nachmittagsprogramm des Raucherkinos um die Ecke spielte er eine tragende Rolle, insbesondere in den italienischen Komödien der Fünfzigerjahre, die man damals noch in den Programmkinos sehen konnte.
Heute zeigt sie nicht einmal mehr das Fernsehen. Eine Frau, eine richtige Frau, so dachten wir damals, macht aus einem profanen Küchenkittel ein atemberaubendes, perfektes Gewand. Zumindest, wenn sie Sophia Loren heißt, noch blutjung ist, und sehr süditalienisch und sehr drall mit einem solchen Kittel in der Küche steht und sehr bewegt im Pasta-Topf herumrührt. Man wartete immer (und natürlich vergebens) darauf, dass im nächsten Moment die bedrohlich gespannten Knöpfe reißen würden. Denn ein solcher Kittel muss, um mehr zu sein als bloß schlichte Arbeitskleidung, unbedingt eng sitzen. So eng, dass man die Nähte knirschen hört.
Dieser schlichte Kittel aus bedrucktem Baumwoll-Drill (später durch Nylon und in der DDR durch Dederon ersetzt), der heute so vollständig aus unserer Lebenswelt verschwunden ist, gehört, wie die holzvertäfelte Straßenbahn, zu den magischen Alltagsdingen, deren Verlust wir wirklich betrauern. Vielleicht wird er noch irgendwo in Ostdeutschland unter der Ladentheke oder in einem der Vintage-Shops verkauft - wir wissen es nicht. Wir haben ihn seit Jahrzehnten nicht mehr getragen gesehen. Auch nicht mehr in alten Filmen. Wer will schon in Kinos gehen, wo man nicht rauchen darf?
Dafür kann man wohl seit ein paar Jahren Haushaltshilfen bei Agenturen buchen, die nicht nur ohne Kittel, sondern gänzlich ohne Kleidung am Küchenherd stehen oder putzen. Aber das tröstet uns nicht. Zum einen ist es fraglich, ob dabei überhaupt die Hausarbeit richtig erledigt wird, zum andern ist eine junge, nackte und sportliche "Hausfrau" nichts im Vergleich zu einer jungen und drallen Hausfrau in einem viel zu engen Küchenkittel; zumindest, wenn sie Sophia Loren heißt.
Ein einfacher Baumwollkittel aus dem Supermarkt, eine Nummer zu klein gekauft, und die junge Sophia Loren, die noch nichts von Valentino-Roben und Schlankheits-Kuren ahnt: mehr müsste es nicht sein. Wir hätten in unserem Leben nichts anderes gewollt, nichts anderes gebraucht, als immer nur am Küchentisch zu sitzen.