Leute wie Hitler, Stalin oder Ulbricht hatten nur deshalb für eine gewisse Zeit Erfolg, weil das Volk zu träge, zu feige oder zu gleichgültig war.
... Und der Prager Frühling ist auch nur deshalb gescheitert, weil sich die Tschechen nicht richtig angestrengt haben?
Ich habe tiefen Respekt vor jedem Einzelnen, der den Mut hatte, unter Einsatz seines Lebens auf die Straße zu gehen und gegen eine Diktatur aufzubegehren. Und ich bin sehr dankbar dafür, dass ich nie den Mut beweisen musste, mir das Leben in einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat zu erkämpfen. Dass ich zu den Ersten gehört hätte, die sich vor rollende Panzer stellen, würde ich nie für mich in Anspruch nehmen. Trotzdem gilt: Erfolgreiche Revolutionen waren immer auch durch verschiedene politische Rahmenbedingungen begünstigt. Ich würde sogar behaupten, sie wurden dadurch erst ermöglicht. Ohne den Mut der Menschen in der DDR wäre es 89/90 nicht zur Wende gekommen. Ohne die veränderte Politik der Sowjetunion allerdings auch nicht.
Und was nun das „Augen öffnen“ angeht: Wenn 84 Prozent in einer Umfrage sagen, sie sehen „keine Alternative zur Demokratie, wie sie jetzt in Deutschland existiert“ (<- sic!), und nur 12 Prozent sich ein besseres politisches System vorstellen können, kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass den 84 Prozent nur die „Augen geöffnet“ werden müssen. Und man kann die deutsche Bildungskatastrophe beklagen, die dazu führt, dass 84 Prozent so verblödet sind, dass sie eine andere Meinung haben als man selbst.
Da ich zu den 84 Prozent gehöre, würde ich aber erwidern: Das ist ungefähr so, als ob ein Geisterfahrer auf der Autobahn sagt: „Hätte man denen in der Fahrschule mehr beigebracht, würden die jetzt nicht alle auf der falschen Straßenseite fahren.“
Nicht bestreiten würde ich, dass wir nicht nur, aber vor allem in Teilen der jungen Generation eklatante Mängel in der politischen Bildung haben. Das hat aber sicher auch etwas damit zu tun, dass ein erheblicher Teil sich denkt, er könne es sich leisten, sich nicht mit Politik zu beschäftigen. Und es hat etwas damit zu tun, dass politische Zusammenhänge in den letzten zwei Jahrzehnten so komplex geworden sind, dass sie abschrecken und die großen Konfliktlinien fehlen, an denen entlang man politisiert wird. Oder besser gesagt: Es gibt sie schon, diese Konfliktlinien. Aber sie werden politisch nicht hinreichend erklärt und organisiert.
Nicht bestreiten würde ich ebenfalls, dass es eine Unzufriedenheit mit der Qualität der politischen Arbeit von Regierungen, Parlamenten und Parteien gibt. Gleichwohl stelle ich fest: Die Beteiligung an Bürger- und Volksentscheiden ist – von seltenen Ausnahmen abgesehen – noch geringer als bei Wahlen. Und das ist ja nun nicht die Schuld der ach so bösen Parteien, sondern die Weigerung vieler, sich ein Urteil in einer Sachfrage zu bilden.
Ich bin selbst aus verschiedenen Gründen kein Freund der direkten Demokratie. In Hamburg erlebe ich immer mit großer Freude, dass Anlässe und Mehrheiten für Bürgerbegehren und Volksentscheide vor allem dadurch entschieden werden, wer die Ressourcen hat. Mein Lieblingsbeispiel ist ein Bürgerbegehren im benachbarten Villenvorort Blankenese gegen den Bau eines DLRG-Rettungsturms. Die Anwohner wollten nicht, dass ihnen der schöne Elbblick verbaut wird. Sie schauen offenbar lieber Leuten beim Ertrinken zu. Da fände ich es dann gut, wenn vernunftbegabte Menschen nicht dazu gezwungen werden, über so einen Schwachsinn abzustimmen, sondern die gute alte Bezirksversammlung sich mit der Eingabe beschäftigt und sagt: „So, Kinder, nun geht mal nach Hause und heult in Eure Satinbettwäsche. Wir ziehen in der Zwischenzeit den Rettungsturm hoch.“
Die Grundidee unseres politischen Systems ist und bleibt gut. Parlamente werden durch Wahlen bestimmt, für die Parteien antreten, die sich programmatisch so aufstellen müssen, dass sie mindestens 5 Prozent der Wähler gewinnen. Und wer sich über Wahlen hinaus direkt in die Politik einbringen will, hat jederzeit die Möglichkeit, eine politische Partei als demokratisches Forum zu nutzen und sich für seine Ideen und Überzeugungen einzusetzen.
Er muss dann allerdings auch damit leben, wenn er gelegentlich von der Mehrheit überstimmt wird. Die Bereitschaft, anzuerkennen, dass die Mehrheit etwas anderes will als man selbst, gehört aber zu einer republikanischen Grundhaltung dazu. So wie zum Autofahren gehört, dass man weiß, auf welcher Straßenseite man fahren muss.