„Die Pressekonferenz fand in einem Tagungsraum im Saab-Museum statt. Aus den Lautsprechern flötete der aktuelle Werbesong „Release me“ der Band Oh Laura, der plötzlich eine neue Bedeutung erhielt – nun befreite sich Saab von General Motors. Saab-Chef Jan Åke Jonsson bereitete sich auf eine Brandrede vor. „Unsere Pläne sind unerhört positiv für Trollhättan und ganz Schweden“, sagte er mit Nachdruck, aber dennoch in seiner typischen Ingenieurs-Sachlichkeit. Er wäre in diesem Moment gerne Bill Clinton gewesen oder Tony Blair, ein wenig demagogischer, um die Situation positiver erscheinen zu lassen. (…) Die Bilder von der Pressekonferenz waren nachtschwarz und zierten die Titelseiten der großen Tageszeitungen am nächsten Morgen. Der Konferenzraum im Halbdunkel nach der Powerpoint-Präsentation. Ein Jan Åke Jonsson, der gerade das Headset-Mikro ablegt. Er ist umgeben von einer Horde Journalisten und Fotografen, wie ein Beutetier. Mehrere Fernsehkameras tauchen sein Gesicht in kaltes Licht.
Die Bilder sagten mehr als man auf den ersten Blick meinte. Jan Åke Jonsson sah sehr einsam aus. Das Unternehmen, für das er fast sein ganzes Leben lang gearbeitet hatte, konnte seine Rechnungen nicht mehr bezahlen und wurde in ein Rekonstruktionsverfahren gezwungen - der allerletzte Strohhalm, nach dem es vor dem Konkurs noch greifen konnte. Er trug nun die Verantwortung. Die Zukunft war ungewiss. Es fehlte das Geld und der Eigentümer, um einen Geschäftsplan zu umzusetzen, der eine Milliarde Dollar kostete - und von dem die schwedische Regierung öffentlich erklärte, er sei viel zu optimistisch. Außerdem war der so dringend benötigte Kredit der Europäischen Investitionsbank unendlich weit entfernt. Zusammengefasst: Es war kein neuer Eigentümer in Sicht, es gab keine staatliche Kreditbürgschaft und nur noch genug Geld, um bis zum Sommer zu überleben. Zugleich verbrannte die Firma Monat für Monat 25 Millionen Dollar. Die Zeitung Dagens Industri schrieb am Tag nach der Pressekonferenz: „Der praktische Effekt ist nur, dass der unvermeidliche Konkurs um eine kurze Zeit verschoben wird.“ Der Analytiker Nils-Olof Ollevik schrieb im Wirtschaftsteil des Svenska Dagbladet: „Saab ist bankrott, am Ende, finito, finished und kaputt!“ (…)
„Es war, als ob ein Tsunami über uns hereinbrach. Hunderte Zulieferer riefen gleichzeitig an und wollten wissen, was die Rekonstruktion für sie bedeute.“ So erinnert sich einer der juristischen Berater an den Tag, als bei Saab die Hölle losbrach. Die Zulieferer fürchteten um ihr Überleben, die Händler hatten genauso viel Angst, und die 4.000 Mitarbeiter von Saab wussten nicht, ob sie am Monatsende noch ihr Gehalt bekommen würden und weiter Autos bauen sollten. (…) Eine andere Person, die im Mittelpunkt stand, war nun Kristina Geers, Saabs Chefjuristin. Sie hatte 1997 bei Saab in den USA angefangen, dann in der Rechtsabteilung von GM in Zürich gearbeitet und war 2004 nach Trollhättan gerufen worden. Sie hatte Erfahrung. Aber hier ging es um die größte Unternehmensrekonstruktion in der schwedischen Geschichte, um die zweitgrößte Unternehmensrekonstruktion in ganz Europa (die größte betraf 2003 den italienischen Lebensmittelkonzern Parmalat). Es gab keine Zeit zur Vorbereitung. Es gab kein Handbuch. Und allen war bewusst, dass die meisten Rekonstruktionen im Konkurs enden. Die Leitungsgruppe aus 14 Personen traf sich im Sitzungsraum im dritten Stock in Trollhättan, wo auf der einen Seite Bilder der Studienmodelle und auf der anderen Seite Bilder der Serienmodelle hängen. Saab stand nun von einem Moment auf den anderen auf eigenen Füßen.
Die wichtigste Frage am Anfang war: Sollte man während der Rekonstruktion weiter Autos bauen? Ein Produktionsstopp würde die Liquidität weniger belasten, weil Saab seine Lieferanten sofort bezahlen muss, den Erlös für die fertigen Autos aber erst später bekommt. Sollte man sich lieber auf die Rekonstruktion konzentrieren? Konnte man wirklich weiter produzieren? In einer modernen Automobilfabrik gibt es im Prinzip kein Lager mehr. Fast alle Teile werden im Minutentakt mit DHL-Lastwagen in die Fabrik gepumpt. Fast alles hängt von anderen Akteuren ab, und man kann sich nicht leisten, dass nur ein einziges Glied in der Kette ausfällt. Jemand rechnete aus, dass ein Produktionsstopp 11.000 Kronen pro Minute kosten würde. Da traf Jan Åke Jonsson eine Entscheidung. Er, der zuvor laut GM-Hierarchie in seiner eigenen Geschäftsleitung gar nichts zu sagen hatte, übernahm nun ruhig und undramatisch die Initiative. Er sah, dass es unmöglich wäre, die Produktion wieder in Gang zu bringen, wenn sie für längere Zeit zum Erliegen käme. Er erkannte, dass es der eigenen Belegschaft Mut machen würde, wenn sie weiter Autos bauen könnte, auch wenn man den Produktionstakt kräftig reduzierte, um nicht so viel Geld zu verlieren. „Business as usual“, sagte er. Saab sollte weiter Autos bauen.
Die GM-Befehlsstruktur, in der alle Manager in die Zentrale nach Rüsselsheim und nach Detroit berichteten, war schon im Dezember zusammengebrochen. Nun pulverisierte sich der Rest der Struktur, der noch da gewesen war. Von nun an berichteten alle an Jan Åke Jonsson. Von nun an hieß es: Saab und Trollhättan gegen den Rest der Welt. (…)
Die Rekonstruktion beinhaltete, dass Saab zwar keine alten Schulden bezahlen musste, aber auch keine neuen Schulden machen durfte. Das bedeutete, dass man sämtliche Leistungen sofort bezahlen musste. Wie sollte das gehen? Zunächst überlegte man, den Lastwagenfahrern, die die Teile lieferten, einfach Geldscheinbündel in die Hand zu drücken. Dann fand man eine andere Lösung: Die Lieferanten übergaben die Rechnung direkt mit der Ware, Saab bezahlte innerhalb von drei Tagen nach Erhalt der Ware. Das klang einfach, war jedoch eine Herausforderung. Das gesamte Rechnungswesen lief bis dahin über GM. Saabs Zulieferer schickten ihre Rechnung per E-Mail direkt an die GM-Finanzabteilung nach Barcelona. GM davon zu überzeugen, die Rechnungen für Saab weiter nach Trollhättan zu leiten, war völlig unmöglich. Stattdessen rief man alle 700 Lieferanten einzeln an, versuchte, den zuständigen Mitarbeiter aus der Buchhaltung ans Telefon zu bekommen, und bat darum, sämtliche Rechnungen nun direkt mit der Ware zu Saab nach Trollhättan zu schicken – nicht per E-Mail, sondern ausgedruckt auf Papier. Nur so ließ sich die Drei-Tages-Frist halten. Doch damit ergab sich das nächste Problem: Saab hatte nun auf einmal täglich 600 Rechnungen zu bezahlen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die seit 20 oder 30 Jahren Autos am Band montiert hatten, zogen ihren Blaumann aus und fingen an, Online-Überweisungsträger der SEB-Bank auszufüllen.
Petra Störch stand wie gewöhnlich an ihrer Produktionslinie in Trim-3. Aber nichts war so wie sonst. Trotz aller Anstrengungen kam es in den ersten Tagen zu Produktionsunterbrechungen. Am Nord-Tor bildete sich eine lange Schlange von Lastwagen, deren Fahrer auf Bezahlung bestanden, bevor sie auf das Gelände fuhren, um die Teile abzuladen. Als Petra Störch auf dem Weg zu den Umkleidekabinen im Obergeschoss durch das Treppenhaus ging, konnte sie durch ein Fenster hinausschauen: „Ich habe noch nie so viele Lastwagen vor dem Tor stehen sehen. Normalerweise rollen sie in einem stetigen Fluss auf das Gelände, wir laden ab, und sie fahren wieder. Jetzt war es plötzlich leer an der Abladebrücke.“ Die Saab-Monteure versuchten so gut wie möglich weiterzuarbeiten und ließen bestimmte Teile wie Stoßstangen und Schweller weg, um sie später nachzumontieren: „Plötzlich standen wir da, und es war kein einziger Schweller mehr da. Wir hörten, sie seien auf dem Weg und müssten jeden Moment eintreffen.“ Sie bekamen die Anweisung, das Band weiterlaufen zu lassen. Normalerweise sind die Schweller das erste Teil, das in Petra Störchs Produktionsabschnitt montiert wird. An diesem Tag jedoch rollten die Autos ohne Schweller 100 Meter weiter. „Nun ist bezahlt, nun kommen die Schweller, hörten wir. Da hielten wir das Band 10 Minuten an, zogen 18 Leute zusammen und rannten wie verrückt gewordene Hühner 100 Meter das Band runter, um die Schweller nachzumontieren. Einer hielt den Schweller an, einer schraubte per Hand mit dem Schraubenzieher sechs Schrauben rein, einer setzte die Clips drauf. Nach zehn Minuten konnte das Band wieder anlaufen.“