Mir ist wieder einer zugelaufen: Bobo, der BorgWarner-Bomber.
In der an Glorie und Geniestreichen reichen Unternehmensgeschichte von Saab ist der arme Bobo nur eine Randnotiz. Er ist so wie der entfernte Verwandte, für den man sich etwas geniert, den man aber trotzdem aus Pflichtgefühl zu großen Familienfesten einladen muss. In Bobo versammelt sich alles, was nicht so glorreich und genial an Saab war. Sein stets etwas angestrengt und kehlig klingender 8-Ventil-Motor hat keinen Turbolader wie seine großen Brüder. Von den nominal vorhandenen 110 PS versumpfen etwa die Hälfte irgendwo in der antiken 3-Gang-Automatik des amerikanischen Zulieferers BorgWarner. Bobo ist also – und da gibt es gar nichts zu beschönigen – ein sehr, sehr langsames Automobil. Er ist so langsam, dass mein Freund C. einst über ihn sagte: „Wenn so einer vorbeifährt, brauchst ihn nicht zu fotografieren. Kannst ihn in Ruhe abmalen.“
Als ob es nicht genug wäre, dass Motor und Getriebe Bobo nur zu bescheidenem Vortrieb verhelfen, hat man beides auch noch in die einzige Karosserievariante gebaut, die selbst bei Markenliebhabern seit jeher nur eine Frage auslöste: „Wieso haben die denn DAS gebaut?“ Wer heute an einen Saab 900 denkt, der denkt an ein schwarzes CombiCoupé. Das Auto der Architekten, Intendanten und Autoren. Vergessen wird dabei, dass Saab stets auch einen anderen Kundenkreis im Auge behalten musste: Den genügsamen skandinavischen Durchschnittsrentner. Und für den war Bobo gedacht. Zwei Türen und ein klassisches Stufenheck. Fensterkurbeln, robustes Velours, „Was nicht drin ist kann nicht kaputt gehen“-Ausstattung. Gebaut wurde diese Kombination ausschließlich im finnischen Werk Uusikaupunki.
Das Problem an der Sache: Selbst der genügsame skandinavische Durchschnittsrentner ließ Bobo links liegen. Von 908.810 gebauten Saab 900 teilen nur 37.795 die Karosserieform von Bobo. Anfang der 1980er Jahre wollten die Schweden dem Chef ihrer Amerika-Vertretung, Bob Sinclair, das neue zweitürige Sedan-Modell schmackhaft machen. 1000 Stück davon sollte er in den USA jährlich verkaufen. Doch Sinclair sträubte sich: „So ein Auto lässt sich bei uns nicht verkaufen.“ Die Schweden beknieten ihn. Er könne alles in die Autos stopfen, was er wolle: Getönte Scheiben, Klimaanlage, elektrische Fensterheber, Leder. Sinclair überlegte und sagte: „Ich will ein Cabrioverdeck.“ Das war die Geburtsstunde des legendären Saab 900 Cabrio. Und wer auf dem Foto von Bobo mit der Hand das Dach verbirgt, kann noch heute erkennen, dass auf seiner Grundlage eines der schönsten Modelle in der Geschichte des Automobils überhaupt entstand.
Nur half Bobo das selbst überhaupt nicht. Manches ließe sich zu seiner Verteidigung vorbringen. Zum Beispiel, dass er mit seinem großen Kofferraum und der umlegbaren Rückbank einen ungewöhnlich großen Nutzwert für eine klassische Limousine hat. Oder auch, dass die Finnen seit jeher die beste Fertigungsqualität und Rostschutzvorsorge innerhalb des Saab-Konzerns ablieferten. Oder auch, dass der alte 8-Ventiler bei etwas Zuwendung genauso beachtliche Laufleistungen erreichen kann wie seine geschmeidigeren 16-Ventil-Brüder. Aber das alles hilft nichts. Nobody wants poor little Bobo.
Niemand? Das stimmt nicht ganz. Denn im Februar 1989 fand Bobo als brandneues Importfahrzeug seinen Weg von Finnland über Dänemark in die Garage von Ellen R., geboren im Februar 1923, wohnhaft in Hamburg Blankenese. Keinesfalls der mondäne Teil von Blankenese, sondern eine bescheidene kleine Zweizimmerwohnung in einem schlichten Mehrfamilienhaus. Ellen, so weiß ihre Tochter Barbara 26 Jahre später zu berichten, wollte unbedingt einen Saab. Ein entfernter Cousin hatte ihr gesagt, dass Saab die solidesten und sichersten Autos überhaupt baut. Ihren finanziellen Möglichkeiten entsprechend musste sie sich bei der Ausstattung beschränken. Sie wollte eine Automatik und dieses wunderbare große Schiebedach. Das reichte.
So kam Bobo zu ihr, und die beiden blieben 26 Jahre und 82.000 Kilometer lang zusammen. „Der Saab war ihr ein und alles“, sagte ihre Tochter. Sichtbares Zeichen der Zuneigung ist ein winziges Saab-Scania-Emblem, das Ellen R. als Devotionalie auf den Handschuhfachdeckel klebte. Sie wurde erst 70, dann 80, dann 90. Aber Bobo wollte sie nicht aufgeben. Er war ihr kleines Freiheitsversprechen auf Rädern. Entgegen aller Warnungen ihrer Tochter setzte sie sich immer noch selbst ans Steuer. Zwar löste sie regelmäßig Hupkonzerte aus und stellte die selbst reparierenden Stoßstangen (eine Saab-Erfindung!) beim Einparken auf harte Proben, aber Ellen und Bobo blieben unzertrennlich. Dann, eines Tages im Frühjahr 2015, fuhr Ellen R. in ihrem alten weißen Saab zum Einkaufen. Sie stieg aus, rutschte auf dem Parkplatz aus, kam ins Krankenhaus und starb.
Sie verbrachte ihre letzte Stunde in Freiheit in ihrem Saab. Aber jetzt brauchte Bobo ein neues Zuhause. Und so kam er nun vor kurzem zu mir. Als ich ihn abholte, brachte Ellens Tochter Barbara, die seit langem in England lebt und ein wenig aussieht wie Rose von den Golden Girls, mich hinunter zur Garage. Dort gab sie mir den Schlüssel und sagte: „Meiner Mutter hätte das sehr gefallen, dass Sie ihr Auto bekommen.“ Dann strich sie mir auf einmal etwas verlegen mit einer Hand über die Wange und sagte: „Passen Sie gut auf sich auf. Und auf den Saab auch.“ Als Bobo und ich vom Hof fuhren, winkte sie uns nach. Sicher dachte sie in diesem Moment an die vielen Situationen, in denen sie ihrer Mutter in ihrem Saab 900 nachgesehen hatte.
Warum nun bin ich der zweite Mensch nach Ellen R., der Bobo aufnimmt, obwohl ihn doch eigentlich keiner will? Weil ich ein Herz für unverstandene Minderheiten habe? Klar. Sonst würde ich ja überhaupt keinen Saab fahren. Weil ich diesen merkwürdigen Aberglauben habe, dass Autos, die geliebt wurden und werden, dankbar sind? Natürlich. Weil Bobo in all seiner konservativen Schlichtheit einen ganz eigenen Reiz ausstrahlt? Auch. Weil Bobo viele der Eigenheiten hat, die einen Saab 900 so besonders machen? Vom 45 Grad geneigten Motor über die in die Türen integrierten Seitenschweller, dem Zündschloss vor dem Schalthebel, der steilen, gebogenen Panoramafrontscheibe, dem genialen Fahrwerk? Selbstverständlich.
Aber es ist noch mehr als das. Seine Erstzulassung fällt in das Saab-Schicksalsjahr 1989. Jenes Jahr, in dem der so wichtige US-Markt für Saab zusammenbrach, der Saab-Scania-Konzern in Milliardenverluste taumelte und verzweifelt einen Partner für die Autosparte suchte. Am Ende schlug General Motors zu, die Autosparte wurde als "Saab Automobile AB" aus dem Konzern herausgelöst, und damit endete die Ära Saab-Scania – die Idee eines schwedischen Mobilitätskonzerns, der unter seinem Dach zivile und militärische Flugzeuge, Raumfahrttechnik, Lastkraftwagen, Busse und Automobile verbindet. Zwanzig Jahre lang hatte dieser Zusammenschluss gehalten. Einfach war diese Ehe aus Saab und Scania zwar nie. Aber sie war doch die beste und aufregendste Periode in der Geschichte von Saab. Und Bobo ist einer ihrer letzten Zeugen. In seinem Fahrzeugschein steht tatsächlich noch „Fahrzeughersteller: Saab-Scania (S)“. Wundervoll.
Nicht zuletzt: Bobo gehört genauso zur Geschichte meiner geliebten kleinen Autofirma wie jedes schicke schwarze Saab 900 Turbo Cabrio. Vielleicht ist er sogar noch typischer. Denn die Grundidee, mit der der Flugzeughersteller Saab zum Ende des Zweiten Weltkriegs in die Entwicklung eines eigenen Autos einstieg, war genau diese: Ein anspruchsloses, sicheres, zuverlässiges Automobil, das sich mit Frontantrieb seinen Weg durch die harten schwedischen Winter bahnt. Ein robustes, gutes, einfaches Fahrzeug, das dem Menschen ein treuer Freund ist. So sollte ein Saab sein. Und genau so ist Bobo.