Mainz. Ein regnerischer Nachmittag im Januar 2016. Ich komme von einem dienstlichen Termin und will zu Freunden nach Eltville fahren. Aber auf dem Weg dahin kommt mir plötzlich Hillary in den Sinn. Mein erster Saab. Der Saab, den ich damals in einer der dümmsten Entscheidungen meines Lebens abgab, weil ich der irrigen Ansicht war, ich bräuchte einen moderneren Saab.
Ich verkaufte das Auto viel zu billig an den Freund eines Freundes. Ein Jahr später rief dieser Mann mich an und sagte, er werde mit dem Auto nicht warm. Für seinen Alltag verbrauche es zu viel (womit klar bewiesen war, dass er nicht wusste, wie man einen Saab fährt. Ein Saab verbraucht nämlich nur viel Benzin, wenn man nicht weiß, wie man ihn behandeln muss). Und dann sagte er: Ich hätte mir ja ausbedungen, dass er zuerst mich anruft, wenn er den Wagen wieder verkaufen wolle. Also biete er ihn mir jetzt an. Für 800 Euro mehr, als er mir selbst vor einem Jahr dafür gegeben hatte. Ich war fassungslos über diese Unverschämtheit. Erstens hatte ich das Geld gerade nicht. Zweitens wollte ich das aus Prinzip nicht. Ja, Hillary gehörte zu mir. Aber sie zurückholen, indem ich mich übers Ohr hauen ließ? Nein. Der Mann verkaufte dann meinen penibelst gepflegten ersten Saab an eine Werkstatt, die den selten guten Zustand erkannte und den geforderten Betrag anstandslos auf den Tisch legte. Seither läuft Hillary dort als Kundenersatzfahrzeug. Als „Werkstatthure“, wie man so sagt. Ein Zustand, der mich jedes Mal quält, wenn ich daran denke.
Und jetzt, auf dem Weg nach Eltville, denke ich wieder daran. Ich fahre kurzentschlossen rechts ran, suche die Adresse der Werkstatt im Internet heraus und gebe sie ins Navi ein. Zehn Minuten später rolle ich auf den Hof. Und da steht sie. Hillary. Ihr schöner weißer Lack ist von all den Jahren im Freien stumpf geworden. Die lackierten Stoßstangen sind derbe patiniert. Das Haubenemblem ist abgeblättert. In der Fahrertür ist eine Delle, und der Innenraum bräuchte mal eine Grundreinigung. Alles kosmetischer Kram. Alles machbar. Und in der Heckscheibe klebt immer noch der Aufkleber, den ich dort seinerzeit stolz dranmachte: „SAAB – Viel Vernunft und viel Vergnügen“. Ich betrete die Werkstatt und rufe dem Meister zu: „Guten Tag! Ich bin nur hier, um mein altes Auto zu besuchen!“ Fünf Minuten stehen wir zu zweit auf dem Hof vor dem Auto, und ich erkläre ihm, was er da überhaupt für ein Auto besitzt: „Sie wissen, dass das ein Solitär ist, oder? Ein zirrusweißer 9-3 SE mit der 2.3-Liter-Maschine ohne Turbo und mit Automatik. Der Motor wurde nur im ersten Halbjahr 98 in den 9-3 gebaut, weil das Werk noch Restbestände hatte. Der Erstbesitzer war Orchestermusiker bei Radio Bremen und bestellte alles – außer Metalliclackierung und Tempomat. So etwas gibt es auf der ganzen Welt nur einmal.“ Dann bitte ich ihn, mir mal den Zündschlüssel zu geben: „Sehen sie: keine Fernbedienung für die Zentralverriegelung. Obwohl die damals eigentlich schon serienmäßig war. Die haben sie in Trollhättan einfach bei einem Schwung von Autos vergessen. Dieses ist eines davon.“ Der Meister sagt: „Fahren sie ruhig mal eine Runde, wenn sie wollen.“
Ich steige in mein altes Auto, drehe den Zündschlüssel zwischen den Sitzen um, und wir fahren los. Hillary und ich. Wie wir es schon so oft getan haben. Ja, sie ist mittlerweile etwas verlebt. Aber beim Fahren ist alles so wie früher. Die Maschine verrichtet ihren Dienst mit dem charakteristischen Klang der Saab-Motoren dieser Jahre. Man kann ihn schwer beschreiben. Vielleicht eine Art kerniges, rauchiges Summen, wenn es das gibt? Die Automatik schaltet sauber. Ich bin sofort wieder zuhause. Vor allem aber: Ich werde geflutet von Erinnerungen und Gefühlen. Berlin. Hamburg. Düsseldorf. Hillary war immer dabei. Ich war in diesem Auto glücklich und traurig, habe geknutscht und geheult, gelacht und gestritten. Es gehört noch zu diesem Lebensabschnitt Mitte/Ende 20, in dem man viele Dinge zum ersten Mal erlebt. So wie eben auch den ersten Saab. Ich war so stolz auf dieses Auto. Ich weiß noch, wie oft ich einfach so die lederne Servicemappe rausholte, mit dem Finger über den Saab-Schriftzug auf der Heckklappe fuhr, um den Wagen herum ging und ihn aus jeder Perspektive betrachtete. Dieses Auto habe ich eigentlich nie abgestellt, ohne mich mindestens einmal danach umzuschauen. So schön fand ich es. Hillary und ich - wir sind einfach ganz dicke Tinte. Bis heute.
Zurück auf dem Werkstatthof sage ich zu dem Meister: „Es steckt so viel von meinem Leben in diesem Auto. Ich möchte es gerne zurückkaufen.“ Der Meister sagt: „Das ist alles eine Frage des Preises. Wir müssten den Wagen ja sofort ersetzen. Aber für 4.000 Euro können sie ihn haben. Mit neuen Sommerreifen, Inspektion und Tüv.“ Ich runzle die Stirn: „Sie haben für den Wagen selbst vor vier Jahren nur 3.000 Euro bezahlt, und wollen ihn mir jetzt für 4.000 Euro verkaufen? Obwohl der Zeitwert gleich Altmetallwert ist? Das mache ich nicht.“ Er zuckt die Schultern: „Sie können es sich ja nochmal überlegen.“ Wir verabschieden uns, und ich bleibe noch eine Zeitlang alleine vor Hillary stehen. Nun bekomme ich sie also zum zweiten Mal nur dann zurück, wenn ich mich dafür übers Ohr hauen lasse. Und dieses Mal ist es die letzte Chance, sie in einem einigermaßen guten Zustand zu retten. Noch einmal denke ich an all die Erinnerungen, die in diesem Auto stecken. Ich sehe schmunzelnd die überlackierte Schramme an der Frontstoßstange, die ich selbst in der Immanuelkirchstraße im Prenzlauer Berg hineinfuhr. Seither sind viele Macken dazugekommen. Bei Hillary. Und bei mir.
Dann denke ich: Es war schön. Sie war ein wichtiger Teil meiner Jugend, ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich möchte diesen Teil zurückhaben.
Aber dann denke ich: Vielleicht ist es auch so, dass dies zu den Dingen gehört, die man sich für kein Geld in der Welt zurückkaufen kann. Vielleicht muss man das akzeptieren. Ich streiche der weißen Hillary zum Abschied mit der Hand über das Dach, steige in meinen schwarzen Saab 9000 und fahre los, ohne mich noch einmal nach ihr umzuschauen.