Manchmal ist Unvernunft das einzig wirklich Vernünftige. Das ist eine Lektion, die ich früh von meinem Vater gelernt habe. Und häufig bezog sie sich auf Autos. So lange ich denken kann, waren Autos zwischen ihm und mir das verbindende Thema. Immer nach dem zweiten Bier begann er, vom ersten VW Käfer über diverse Renaults der 70er und Citroën der 80er und 90er bis zum jeweils aktuellen Auto seine gesamte Autovita nachzuerzählen. Der BMW, dessen Bodenblech durchgerostet war, so dass man auf die Straße gucken konnte. Der Simca, der leider immer hupte, wenn er um die Ecke fuhr. Der Opel Rekord, mit dem er mit Motorschaden in Kiel havarierte und sich von meiner Mutter in ihrem R6 abschleppen ließ. Die hörte allerdings dabei so laut Musik, dass sie nicht merkte, als sie meinen Vater mitten auf der Kreuzung verlor (mein Bruder drehte sich dann irgendwann auf der Rückbank um und sagte: "Mama, Papa ist gar nicht mehr da.") Der R4, mit dem er während des Ingenieursstudiums zwischen der Fachhochschule in Heidelberg und seiner jungen Familie in Eckernförde pendelte. Am Wochenende tauschte er auf dem Garagenhof auch schon mal das Getriebe.
Dieses gesamte Erzähl-Ritual konnte man nicht unterbrechen. Und ich wollte es auch gar nicht. Ich liebte diese Geschichte immer und immer wieder. Und sie spiegelt auch die Geschichte meiner ganzen Familie. Ich erinnere mich zum Beispiel an den Stolz, als mein Vater 1989 den ersten fabrikneuen Citroen BX Break bestellte - mit Autotelefon. Und ich erinnere mich daran, wie er dann einige Jahre später in der Zeit seiner Insolvenz schlagartig ergraute und in einer Ente mit klemmenden Gaspedal nach Bremen pendelte.
So lange ich denken kann, tingelten wir samstags durch die Autohäuser. Bis zuletzt. Mein Vater spielte Lotto. Und so überlegten wir uns jeden Samstag aufs Neue, welches Auto wir uns am Montag vom Sechser mit Zusatzzahl kaufen. Der eigentlich Gewinn erschien uns nur noch reine Formsache. Bis zur Ziehung der Zahlen am Abend hatten wir von der Lackierung bis zu den Felgen alles festgelegt. Natürlich gewannen wir nie. Aber das machte nichts. Am Samstag drauf zogen wir einfach wieder los. So verstand ich früh, dass es im Leben nicht immer darum geht, etwas zu besitzen. Die Fantasie, die freudige Vorstellung von etwas - das ist ein Wert an sich. Noch eine Lektion, die ich von meinem Vater gelernt habe.
Als ich mit dem Studium fertig war, kam dann der erste SAAB in unser Leben. Gut fanden wir die Individualisten- und Ingenieursmarke schon immer. Sie spiegelte unsere eigene Lebenseinstellung. Aber als wir meinen weißen 9-3 in Bremen Probe fuhren und kurz darauf abholten, waren wir beide einfach hellauf begeistert. Uns schien dies das beste Auto, das überhaupt jemals gebaut wurde. Ein automobiles Erweckungserlebnis. Ein Jahr später bekamen meine Eltern ihren eigenen 9-3. Ich entdeckte ihn bei einem Berliner Kiesplatzhändler in Neukölln. Als ich ihn kaufte, hatte ich die 3.000 Euro wegen der zwielichtigen Gegend in einer Plastiktüte in die Unterhose gesteckt. Eine Geschichte, die meinen Vater so erfreute, dass er sie noch Jahre später bei passenden und unpassenden Gelegenheiten erzählte. Ein paar Tage, nachdem er den Wagen bei mir in Berlin abgeholt hatte, schrieb er mir abends eine Mail: "Hallo Faxi! Mama und ich freuen uns jeden Tag mehr über den Saab. Es ist so, dass man oft einfach mal das Auto aus der Garage holen möchte um mal, ohne besonderes Ziel, einfach eine Runde damit zu drehen. Es ist einfach schön beim Fahren das innere Ambiente zu geniessen während es von aussen ein Understatementfahrzeug ist über das Andere hinwegsehen. Das habe ich bisher noch bei keinem anderen Auto erlebt, auch nicht bei dem XM. Ich kann jetzt gut verstehen, das Saab-Fahrer ihr Auto lieben und die Negativaspekte (Verbrauch, Werkstattpreise) in großem Umfang bereit sind zu akzeptieren. Wir sind dir sehr, sehr dankbar das wir so etwas Schönes noch auf unsere alten Tage erleben dürfen. Schönes Wochenende und liebe Grüße (nach 2 Cola-Rum), Papa"
Viele weitere Saab-Probefahrten und Abenteuer folgten. Gemeinsam waren wir im Saab-Museum in Trollhättan und standen andächtig vor dem Ur-Saab. Wir fuhren zusammen nach Paderborn und besuchten Heinz-Jürgen Borghardt. Gemeinsam fuhren wir auch aus dem hohen Norden nach Nürnberg, um einen 9000 CD anzuschauen, den ich nur wegen eines kleinen Rostlochs am Radlauf stehen ließ. Also fuhren wir wieder zurück. Bei den vielen Saabs, die ich nicht stehen ließ, sondern kaufte, entwickelten wir eine gewisse Virtuosität darin, uns den Kauf gemeinsam schön zu reden. Am Ende war jeder Saab nichts Anderes als ein absolut zwingender Vernunftkauf.
An einem Sonntag im Herbst 2022 besichtigten wir gemeinsam noch einmal einen Saab. Ein 9000 CC in Kiel. Wir waren beide vom Pflegezustand positiv überrascht. Eine Tür war nicht verriegelt. Also setzten wir uns ins Auto und sagten beide zueinander: Wow, Neuwagengeruch. Mitte November - ich war wieder in Frankreich - fuhr mein Vater den Wagen für mich zur Probe. Meine Mutter machte auf einem provisorischen Klemmbrett Notizen auf dem Beifahrersitz, mein Vater füllte nachher die Checkliste säuberlich aus, die ich vorbereitet hatte. Wir telefonierten viel über das Auto, wogen Für und Wider ab. Am Ende entschied ich mich, einmal - nur einmal! - vernünftig zu sein. Zu großer Investitionsbedarf für ein Auto ohne Marktwert. Punkt.
Eine Woche später kam mein Vater ins Krankenhaus. Er wurde mit einer akuten Erkrankung erst ins besser ausgerüstete Krankenhaus des Nachbarorts verlegt, und dann auf die Intensivstation. Am 16. Dezember um halb 7 am Morgen starb er. Draußen war die Landschaft ganz in weiß gehüllt, es sollte ein wunderschöner Wintertag werden. Drinnen hielten mein Bruder und ich jeweils eine Hand unseres Vaters, meine Mutter strich ihm über den Kopf und sagte immer wieder: Du kannst gehen.
Als wir einen Tag später beim Bestattungsunternehmen die Formalitäten geklärt hatten, zuckte ich auf der Rückfahrt nach Hause zusammen. Ich hatte das Allerwichtigste vergessen. Also schrieb ich dem Bestatter eine Mail und erkundigte mich: Mit welchem Auto würde denn mein Vater eigentlich überführt? Die Antwort kam prompt: Mit einem Volvo V90. Ich nickte zufrieden. Das hätte ihm gefallen.
Heute nun setzte ich mich - erschöpft von all der Traurigkeits-Organisation - in meinen Firmenwagen und fuhr noch einmal die Strecke von Eckernförde nach Kiel, die ich schon so oft mit meinem Vater fuhr, um "Autos zu gucken". Natürlich landete ich auf dem Hof, auf dem der 9000 CC stand. Der letzte Wagen, den mein Vater und ich gemeinsam besichtigt hatten. Der letzte Wagen, den er für mich probegefahren hatte. Am Empfang ließ ich mir die Schlüssel geben und setze mich noch einmal hinein. Wieder dachte ich: Wow! Neuwagengeruch. Und hörte mich sagen, was ich vor wenigen Wochen an der gleichen Stelle sagte: "Du Papa, der ist besser, als ich dachte. Ehrlich gesagt hat mir lange keiner mehr so gut gefallen. Auch, wenn was dran zu tun ist."
Schließlich kam der Verkäufer dazu. Ich stieg aus, schlug die Tür zu und sagte: "Sie erinnern sich vielleicht. Wir haben vor einigen Wochen geschrieben. Mein Vater hat diesen Wagen kürzlich für mich Probe gefahren. Ich nehme ihn vielleicht doch. Sie wollten 2.500 für ihn, so wie er da steht, oder? Wollen wir uns auf 2.000 einigen, und ich hole ihn bis Ende Januar ab?" Ein bisschen zierte er sich noch. Schließlich sagte er: "Ok, 2.100?" Ich nickte: "Hand drauf."
Manchmal ist Unvernunft das einzig wirklich Vernünftige.